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Kulturtipps für Zuhause Buchtipp 

Literatur für Zuhause (6)

Lesen statt Lesungen

Die sechste Folge der Leseempfehlungen der Sektion Literatur stammt erneut von Helmi Dietz, die nach einem Roman (Folge 5) nun ein Sachbuch vorstellt.

Was lesen Sie gerade?
»Sprache und Sein« von Kübra Gümüsay.

Warum gerade jetzt dieses Buch?

Durch das Virus liegen Nerven blank, Frustration macht sich breit, Aggression baut sich auf: Was liegt näher, als nach Sündenböcken zu suchen? Und was ist leichter, als sie da zu finden, wo Anderssein sichtbar ist oder vermutet wird? Hassmails und -kommentare werden nicht weniger sondern mehr. Da liegt es nahe, sich mit der Rolle der Sprache auseinanderzusetzen; welchen Anteil hat sie an Ausgrenzung und Hass wie auch dem Gegenteil: dem Diskurs auf Augenhöhe.

Kübra Gümüsay schildert, unter welchen Schwierigkeiten sprachliche Kommunikation stattfindet, wenn immer erst die Hürde einer vorbehaltlosen Wahrnehmung des Gesprächspartners zur Seite geräumt werden muss. Diese Hürde kann sein: Frau, kopftuchtragende Frau, Muslimin, Migrantin mit all den dazu gedachten Querverweisen: konservativ, unterdrückt, Opfer patriarchaler Gesellschaft, engstirnig, ungebildet. Sie besteht darauf als Individuum – als Autorin, Journalistin, Feministin – wahrgenommen und über alle konstruierten Kategorien hinweg gehört zu werden.

Gümüsay diskutiert die Macht der Sprache, die aktuelle Verrohung, die Umwertung von Begriffen, die Gefährdung von Werten und Moral durch das Einsickern fragwürdigen Vokabulars in den politischen und gesellschaftlichen Alltag. Sie fordert eine »neue Sprache« , in der freies Sprechen möglich ist ohne erst die eigene Existenzberechtigung verteidigen zu müssen.

Wem würden Sie dieses Buch empfehlen?
Allen, die gerne diskutieren, denn nach der Lektüre bleiben Fragen offen und manches fordert Widerspruch heraus. Und allen, die mit Argwohn die Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses beobachten, weil ihnen klar ist, dass Sprache und Sein nicht voneinander zu trennen ist. Dieses Buch ist wichtig. Es schärft das Ohr, eröffnet neue Blickwinkel. Es ist sprachlich und inhaltlich durchaus auch ein Lesevergnügen, das ich empfehlen kann.

Kein Kino, kein Theater. Die Liste all dessen, was gerade nicht mehr zur Verfügung steht, ist lang. Dem Buch kommt in dieser Zeit eine besondere Bedeutung zu: »Die Pest« von Albert Camus ist längst ausverkauft, viele Leser greifen wieder zu Thomas Manns »Zauberberg« und lesen gebannt von den Ereignissen in einem Lungensanatorium. Aber auch ganz abseits thematisch wieder aktueller Bücher wird gerade häufiger gelesen. Unsere Empfehlungen präsentieren wir in der Form eines kurzen Fragenkatalogs.

Frühere Folgen der Reihe findet Ihr in unserem Archiv.

 

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